Warum Goebbels Tagebuch schrieb: Zum Zusammenhang von Sprache und Ideologien
Zu Beginn der Nacht, die als „Reichspogromnacht“ in die Geschichte eingehen würde, notierte Goebbels in sein Tagebuch: „Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen. Das ist richtig. […] Nun wird das Volk handeln.“ In dieser Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 und in den Tagen danach wurden hunderte von Juden ermordet oder in den Suizid getrieben und tausende misshandelt. Ca. 26.000 jüdische Männer und Jugendliche wurden in Konzentrationslager verschleppt. Etwa eineinhalbtausend Synagogen und Versammlungsräume jüdischer Gemeinden gingen in Flammen auf. Tausende Wohnungen und Geschäfte von Juden und auch jüdische Friedhöfe wurden zerstört.
Allerdings waren die Täter nicht „das zornige Volk“, wie von Goebbels in seinen Aufzeichnungen dargestellt. Es handelte sich vielmehr um Mitglieder von SS und SA und anderer nationalsozialistischer Gruppierungen. Häufig in Zivil gekleidet, aber scheinbar gut organisiert (zu den Geschehnissen s. z.B. hier, hier oder hier). Und auch Goebbels selbst hatte noch am späten Abend des 9. Novembers vor wichtigen Partei- und SA-Führern eine Rede gehalten, die seine Zuhörer als eine indirekte Aufforderung verstehen mussten, weitere „spontane Aktionen des Volkszorns“ gegen die Juden zu organisieren. Befriedigt notierte er danach auch: „Stürmischer Beifall. Alles saust gleich an die Telephone.“
Damit stellt sich nun aber die Frage, warum Goebbels in seinem eigenen Tagebuch die Geschehnisse so wesentlich verdreht. Sie als Handlungen des Volkes darstellt, obwohl sie im weiteren Verlauf von ihm und anderen Nationalsozialisten gesteuert wurden (was nicht bedeutet, dass die übrige deutsche Bevölkerung unbeteiligt geblieben wäre. Es gab an vielen Orten Plünderungen und johlende und jubelnde Schaulustige). Die Antwort auf diese Frage ist vielschichtig. Und sie kann uns einen zentralen Hinweis darauf geben, wie Ideologien entstehen und gefestigt werden und welche Rolle die Sprache dabei spielt.
Natürlich hatte Goebbels Vorgehen Schutzfunktion nach außen. Kein Gegner in In- und Ausland sollte behaupten können, er habe offiziell zu den antisemitischen Gewalttaten aufgerufen. Seine Tagebücher hatten also eindeutig eine solche nach außen gerichtete Selbstdarstellungsfunktion. Schließlich betrachtete er sie ab einem gewissen Zeitpunkt auch als seinen Nachlass, als Zeugnis seiner Wirkungskraft und keinesfalls nur als reines Selbstreflexionsinstrument. Und so stellte er sich dort für die Nachwelt als ein außerhalb stehender Vertreter des Volkswillens dar. Als nicht wirklich verantwortlich für dessen Taten, aber doch als überzeugt von ihrer Richtigkeit.
Die Textstelle vom zentralen Abend der Reichspogrome entlarvt aber auch eine weitere wichtige Funktion, die die Einträge für den Nationalsozialisten hatten: Sie sind auch – und vielleicht auch vor allem – nach innen gerichtete Versuche, das eigene Welt- und Selbstbild zu bestätigen. Das eigene Empfinden von Rechtmäßigkeit sollte beschwichtigt, die eigene Meinung und die eigenen Taten vor sich selbst gegen mögliche Zweifel als wahr und richtig beglaubigt werden. Welche Funktion sollte sonst ein faktisch formuliertes Urteil wie: „Das ist richtig“ in einem Tagebucheintrag haben? Zumal, wenn es sich auf zu erwartende Morde und die geplante Zerstörung von menschlichen Lebensgrundlagen bezieht?
Auch in vielen anderen Textstellen des Tagebuches lässt sich eine solche nach innen gerichtete Funktion von Formulierungen feststellen. So z.B., wenn Goebbels im Zusammenhang mit den Novemberpogromen den Ausdruck „Judenaktion“ verwendet, als handele es sich dabei um eine Lappalie. Diese sprachliche Beschönigung bot seinem Verwender aber Schutz vor dem, was das Bezeichnete eigentlich bezeichnete. Und wofür er selbst damit verantwortlich gewesen wäre. Ein Euphemismus dient schließlich dazu, nur einen Teil des eigenen Wissens über einen Sachverhalt kognitiv zu aktivieren. Die inneren Scheuklappen können so aufgesetzt und unangenehme Details oder Bewertungen ausgeblendet werden. Die Verwendung eines Euphemismus erlaubt damit sogar eine mentale Ummodellierung der Wirklichkeit. Gewaltexzesse gegen Tausende von Juden verwandeln sich so z.B. in eine bloße „Aktion“. Der kognitive Fokus wird dabei vor allem auf die – positiv bewertete – Zielorientiertheit und auf den Planungscharakter der Taten gelenkt. Nicht aber auf die Taten selbst und die Menschen, die sie betreffen. Zum Kernkonzept des Begriffes „Aktionen“ gehört nicht einmal ein Teilkonzept „Opfer“. Und auch auf die Vorstellung von der Dauer der möderischen Geschehnisse, die tagelang andauerten, hat der gewählte Begriff Einfluss: Sie werden zu einem eher kurzen Prozess.
Der Sprachwissenschaftler Ulrich Nill formuliert die Wirkungsweise solcher sprachlichen Momente so: Ein ideologisches Weltbild „fällt nicht vom Himmel und ist nicht angeboren, es muss sprachlich hergestellt und stabilisiert werden. Der Spagat, mit dem es gelingt, Massenmord und Wohlanständigkeit zu verbinden, ist ein sprachlicher. Ihn über einen längeren Zeit aufrecht zu erhalten […] ist anstrengend und nur mit einer spezifischen Rhetorik zu leisten.“ Damit – so betont Nill weiter – sind die Täter also auch keine Opfer ihres eigenen Weltbildes, sondern als Verantwortliche zu verstehen. Sie waren Handelnde, die ihr eigenes Gefühl von Moral mit viel kognitivem und sprachlichem Aufwand verdrängten.
Ideologische Kommunikation dient also nicht nur dazu, an ein Publikum gerichtete ideologische Inhalte zu verbreiten und zu festigen. Auch für den Ideologen selbst ist sie entscheidender Leitfaden bei der Herstellung und Bestätigung des eigenen Weltbildes. Und ein solches Bild müssen wir uns alle erarbeiten. Der Mensch steht schließlich grundsätzlich vor der Notwendigkeit, die Welt, in der er lebt, zu verstehen und sich ein kausal zusammenhängendes Bild von ihr zu erschließen. Das, was wir so verstehen müssen, ist allerdings unüberschaubar komplex. Hinzu kommt, dass es aus den unterschiedlichsten Perspektiven betrachtet werden kann. Diese Umstände machen das Angebot eines einfachen Weltbildes durchaus verführerisch. Und so ist der Glaube an Perspektiven und Antworten, die einfach sind, auch in unserer wissenschaftlich ausgefächerten Welt noch immer weit verbreitet und eröffnet Ideologien Wirkungsräume.
Dass aber ein einfaches Weltbild der Komplexität, der Vielschichtigkeit und der Veränderlichkeit der Welt und der Menschen nicht gerecht werden kann, ist nun nichts Neues. Ein solches Verständnis erklärt sich allerdings auch nicht von selbst. Es muss erst nachempfunden werden können. Von denjenigen, die diese Meinung noch lernen müssen – wie z.B. Kinder –, aber auch von denjenigen, die sie nicht vertreten – obwohl sie es besser wissen könnten. Es gehört also zu unseren gesellschaftlichen Aufgaben, ein Verständnis von der Welt als etwas Komplexes und Vielschichtiges zu etablieren, indem wir diese Vorstellung nachvollziehbar machen. Wir müssen Beispiele finden, die an die Wissensbestände der Einzelnen anschließen, um sie so zu erreichen. In jedem Fall dürfen wir nicht nur über diejenigen mit einem ideologischen Weltbild sprechen, sondern wir müssen den Dialog mit ihnen suchen. Ideologien können schließlich nicht nur sprachlich hergestellt werden, man kann sie auch mittels Sprache wieder auflösen.
Weiterführendes zum Thema dieses Artikels bald hier im Blog: Wir greifen dann die Fragen auf, wie das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit ist und welche Rolle die Sprache für unser Bild von der Welt spielt.
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