Guck mal, wer da spricht!

Es ist ein kleines Wunder, dass sich tagtäglich vor unseren Augen ereignet: Kinder lernen zu sprechen. Was auf den ersten Blick wie eine Selbstverständlichkeit erscheint, entpuppt sich als ein vielschichtiger Prozess, der der Wissenschaft bis heute einige Rätsel aufgibt. Die Erforschung des Spracherwerbs wird mittlerweile von verschiedenen Disziplinen gemeinsam betrieben: Sprachwissenschaftler, Mediziner, Anthropologen und Historiker tragen ihre Erkenntnisse zu der Frage bei, wie die menschliche Sprache entstanden ist und wie sie in jeder Generation aufs Neue vermittelt und erlernt wird. Die Frage nach dem Wesen der Sprache berührt nicht nur didaktische und pädagogische Aspekte. Wenn die Sprache das ist, was uns Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet, verrät die Antwort auch sehr viel über uns selbst und was uns als Menschen ausmacht.
Der Spracherwerb beginnt viel früher, als man vielleicht denken würde. Bereits im Mutterleib hört sich der Säugling in den Rhythmus der Sprache ein und lernt, die Stimme der Mutter von anderen zu unterscheiden. Der Spracherwerb folgt bei allen Kindern einer Entwicklungslogik, die in den Phasen des Spracherwerbs abgebildet ist: Schreien, Gurren, Babbeln, erstes Wort, danach Einwortsätze. Dann folgt die Ausweitung des Vokabulars und die Bildung von Zwei- und schließlich Mehrwortsätzen. Dabei ist die Fähigkeit des Kindes, Gesprochenes zu verstehen, der Fähigkeit, selbst zu sprechen, immer voraus. Bemerkenswert ist, dass alle Kinder innerhalb einer gewissen Bandbreite die Stufen des Spracherwerbs in ungefähr dem gleichen Alter erreichen.
Die Geschwindigkeit des Spracherwerbs hängt von der Komplexität der grammatischen Strukturen der Muttersprache ab. Kinder mit deutscher Muttersprache brauchen durchschnittlich etwa dreieinhalb Jahre, um die grammatischen Fälle des Deutschen richtig benutzen zu können, da das Kasussystem im Deutschen kompliziert ist. Im Türkischen ist dies einfacher und nach klaren Regeln aufgebaut, weswegen mit der türkischen Sprache aufwachsende Kinder die Fälle bereits mit zwei Jahren weitgehend fehlerfrei beherrschen. Wichtig für den reibungslosen Spracherwerb ist allerdings eine sichere Bindung des Kindes zu seinen primären Bezugspersonen. Eine gute Beziehung zu den Eltern und ein Umfeld, das das Kind zum Sprechen ermuntert, fördern den Prozess des Spracherwerbs: Der Wortschatz entwickelt sich früher und wird schneller größer als bei Kindern, die wenig kommunikative Zuwendung erhalten.

Sprachwissenschaftler beschäftigen sich nicht nur mit der Frage, wie Kinder das Sprechen erlernen, sondern auch damit, wie die Fähigkeit des Menschen zu sprechen überhaupt erklärt werden kann. Berühmt ist das makabre Experiment Kaisers Friedrich des II.: Um herauszufinden, was die Ursprache des Menschen sei, ließ er kleine Kinder einsperren. Mit ihnen durfte weder gesprochen werden, noch erfuhren sie körperliche Zuwendung und menschliche Nähe. Diese Versuche scheiterten: Die Kinder entwickelten überhaupt keine Sprache. Denn obwohl sie genug Nahrung bekamen, starben sie, weil sich niemand mit ihnen beschäftigte. Sicher ist also, dass die Sprache des Menschen kein angeborener Instinkt ist. Damit ist sie ein einzigartiges Phänomen, das den Menschen von allen anderen Lebenwesen unterscheidet. Die Frage nach dem Ursprung der Sprache führt so direkt auch auf die Frage nach dem Wesen des Menschen.
Während man lange Zeit davon ausging, dass Sprache durch Nachahmung erlernt wird, hat sich unser Bild vom Spracherwerb bis heute immer wieder verändert. Der amerikanische Sprachwissenschaftler Noam Chomsky ging ab den 1950er Jahren davon aus, dass es ein Sprachprogramm im Gehirn gebe, das allen Menschen angeboren sei. Dieses Sprachzentrum sei verantwortlich für die Fähigkeit des Menschen, jede existierende Sprache zu erlernen. Er ging davon aus, dass alle Kinder eine universale Grammatik genetisch mit auf den Weg bekämen, die sie im Erkennen der konkreten Regeln ihrer Muttersprache dann nur noch anwenden müssten. Der Spracherwerb verläuft bei allen Kindern ähnlich schnell und lässt sich über verschiedene Sprachen hinweg in einheitliche Phasen einteilen. Auch Kinder mit geistigen Einschränkungen oder sehr niedrigem Intelligenzquotienten erbringen im sprachlichen Bereich oft bemerkenswerte Leistungen. Ist es nicht erstaunlich, dass manche Kinder das kleine Einmaleins nie erlernen und trotzdem in der Lage sind ihre Muttersprache zu sprechen – ein Gebilde, dessen Regelwerk ungleich komplizierter ist? Diese Beobachtungen wertete Chomsky als Indiz dafür, dass es ein angeborenes Sprachzentrum im Gehirn gebe, das losgelöst von der allgemeinen Intelligenz speziell für die Sprache zuständig sei. In diesem Hirnareal vermutete er die Universalgrammatik, die für die Fähigkeit des Kindes zum Erlernen von Sprache verantwortlich sei.

Neuere Forschungen haben Zweifel an dieser Theorie aufkommen lassen. Eine neue Erkenntnis besteht darin, dass kein neurologisch abgrenzbares Sprachzentrum im Gehirn nachgewiesen werden konnte. Die Forschungen der Kognitionswissenschaft legen eher nahe, dass die Sprachfähigkeit in denselben multifunktionalen Problemlösungszentren verankert ist wie andere Fähigkeiten des Gehirns. In diesem gebrauchsorientierten Modell des Spracherwerbs geht man nicht davon aus, dass der Säugling bereits mit einer angeborenen Universalgrammatik ausgestattet ist. Der Mensch komme vielmehr als unbeschriebenes Blatt auf die Welt – bringe allerdings rudimentäre Problemlösungskompetenzen mit, die dann je nach dem individuellen Umfeld ausgebaut werden. Zum Beispiel die Fähigkeit des Gehirns, Kategorien zu bilden, und so zwischen belebten und unbelebten Dingen unterscheiden zu können. Sprache ist demnach also ein Werkzeug unter anderen, mit dem sich das Kind die Welt, wie sie ist, erschließt und beherrschbar macht. Sprache entwickele sich so mit dem allgemeinen Ansteigen der geistig-kognitiven und körperlich-motorischen Fähigkeiten mit. Ein besonderes Augenmerk legt dieser gebrauchsbasierte Ansatz auf die soziale Komponente des Spracherwerbs. Sprache wird hier nicht als vorprogrammierte, angeborene Grammatik gedacht. Vielmehr müssen wir den Spracherwerb des Kindes als ein aktives Zusammenspiel von Fähigkeiten zwischen den Generationen begreifen: Eltern stellen ihre Redeweise intuitiv so auf das Niveau ihres Nachwuchses ein, das dieser das Gesagte auch verarbeiten kann. Und Kinder sind in der Lage, die Intention ihrer Eltern zu erkennen, um so den gemeinten Sinn der sprachlichen Äußerungen zu verstehen, selbst wenn die Eltern grammatische Formen verwenden, die das Kind eigentlich noch nicht verstehen kann. So entsteht die Sprache in jedem Kind aufs Neue durch die Interaktion mit den Eltern, ohne genetisch vorprogrammiert oder auch nur schlicht nachgeahmt zu sein. Der Prozess des Spracherwerbs selbst verweist damit aber auf die Natur des Menschen: ein soziales Wesen zu sein.
Autor: Kolja Schmidt
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